Bernhard Reuter war viele Jahre Landrat – zunächst im Kreis Osterode am Harz, dann im Landkreis Göttingen und zuletzt im „neuen“ Landkreis Göttingen, der mit Osterode am Harz fusioniert wurde. Zu seinem Abschied bereiteten Weggefährten von Reuter eine „Freundesgabe“, an der sich zahlreiche namhafte Autorinnen und Autoren mit Beiträgen beteiligt haben. Verbandsdirektorin Dr. Susanne Schmitt widmete sich in ihrem Text den „Entwicklungstendenzen auf den Wohnungsmärkten in Südniedersachsen“.
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Von Dr. Susanne Schmitt, vdw-Verbandsdirektorin
Wohnen ist ein Grundbedürfnis – und zugleich viel mehr als das. Eigentlich ist Wohnen eine fast beiläufige Tätigkeit; keine große Kunst, manchmal langweilig und trotzdem emotional; etwas scheinbar Selbstverständliches im privaten Alltag und doch in vielfältigen persönlichsten Ausprägungen stets überraschend; manchmal überwältigend, hin und wieder beängstigend, in jedem Fall allgegenwärtig und neugierig machend; und nicht zuletzt verleiht es dem Wohlergehen einer ganzen Gesellschaft Ausdruck.
Das Wohnen ist aber nicht nur uns Wohnenden vergönnt. Auch die Wirtschaft hat es längst in all seinen Facetten entdeckt.
Es kam einem Paradigmenwechsel gleich, dass die Wohnungswirtschaft dem Begriff des Wohnens seit vielleicht zehn bis zwanzig Jahren eine ganz neue Bedeutung beimisst. Während man sich in der Branche bis dato vor allem dem physischen Produkt Wohnung gewidmet und die Geschäftstätigkeit weitgehend auf dessen Vermarktung ausgerichtet hatte, waren nun ganz andere Stimmen zu hören. Wohnen sollte mehr sein!
Das Produkt Wohnung gibt es selbstredend nach wie vor, aber das Verständnis von Wohnung und Wohnen und damit die Strategie insbesondere sozial orientierter Vermietungsunternehmen hat sich gewandelt. Sie verstehen sich nicht länger nur als Zur-Verfügung-Steller von Wohnraum, der seine Ware dem Kunden andient, das Geschäft besiegelt und anschließend, möglichst ohne weiteres unternehmerisches Zutun und ganz stillschweigend, eine monatliche Mietgebühr kassiert.
Das war einmal. Wohnungsgenossenschaften und kommunale Wohnungsgesellschaften haben damit aufgeräumt. Was war, ist nicht mehr. Was lange galt, gilt nicht mehr. Das Produkt Wohnung ist der Kern einer größeren Idee: Die sozial orientierten Vermieter haben sie eingebettet in eine ganzheitliche Dienstleistung. Und diese ehrliche Dienstleistung heißt: Gut wohnen!
Andere Wirtschaftszweige haben dies längst erkannt. Wohnst Du noch oder lebst Du schon? Der leicht verächtliche IKEA-Werbespruch ließ vor rund 15 Jahren noch die alte Grundskepsis durchblicken, dass das Wohnen per se wohl eine ziemlich kleinbürgerliche Angelegenheit sei. Mittlerweile haben Wortschöpfer, Verkaufsstrategen, Psychologen und Marketingexperten das gemacht, was sie am besten können: Sie haben Wohnen mit großen Gefühlen aufgeladen. Man könnte sagen: den Staub aus den Gardinen geschlagen, gelüftet und einmal kräftig durchgewischt. Wohnen ist jetzt auch Lifestyle und somit Ausdruck von Wohlstand und Zuversicht.
Gut und sicher wohnen – das solide Versprechen der deutschen Wohnungswirtschaft wirkt vor diesem Hintergrund viel zu bescheiden, wenn man bedenkt, dass die Bewohner von Häusern und Wohnungen mit ihrer Art des Wohnens immer häufiger selbstbewusste Statements setzen. Ihre Botschaften lauten: Seht her, hier bin ICH zuhause! Hier FÜHLE ich mich wohl! Hier bin ich geborgen! Mein Haus, mein Garten, meine Doppelgarage. Meine Wohnung, meine Einbauküche, mein Gasgrill auf dem Balkon.
Und weil der Mikrokosmos der eigenen vier Wände nicht isoliert dasteht, gesellt sich zum Wohnen das Leben. Die Umgebung gewinnt an Wert. So heißt es denn auch: Meine Wohnung, meine Nachbarschaft, meine Straße, mein Quartier, mein Ort, meine Stadt. Hier ist meine Heimat! Diesem Bekenntnis werden Planer und Entscheider in der Nach-Corona-Zeit noch deutlich mehr Beachtung schenken müssen.
Der beschleunigte Wandel von Produkt- zu Dienstleistungsanbietern hat den Wohnungsmarkt gravierend verändert. Homogen im wissenschaftlichen Sinne war er nie. Mittlerweile haben sich die Märkte fürs Wohnen und für Wohnungen aber in einer so detaillierten Weise ausgeprägt, dass man immer und allerorten ganz genau hinsehen muss. Eine gute Investitionsentscheidung hier würde im Nachbarort im Sande verlaufen. Eine vielgefragte Serviceleistung etwa für ältere Menschen in einem Stadtteil stößt schon wenige Straßenecken weiter auf gar kein Interesse mehr.
Das bedeutet für Politik, Verwaltung und die gesamte Wohnungs- und Immobilienwirtschaft notwendigerweise, bei der Verteilung von Ressourcen ausgesprochen differenziert vorzugehen. Das macht das tägliche Geschäft natürlich nicht einfacher. Blicken wir nur einmal auf Niedersachsen: Wer hier im Land eine einheitliche Förderpolitik mit der Gießkanne versucht, wird weitgehend seine Ziele verfehlen. Zu heterogen haben sich die Gebiete entwickelt. Strukturschwache Räume, boomende Ballungszentren, attraktive Großstädte, ambitionierte Mittelzentren, begehrte Speckgürtel und periphere ländliche Gegenden – zwischen Nordsee und Harz findet man so ziemlich alles, was das Herz der Regionalforschung begehrt.
Zoomt man noch dichter heran, wird klar: Selbst in kleinen Ausschnitten wird keine Einheitlichkeit sichtbar. Sogar auf der Ebene von (Samt-)Gemeinden verschieben sich die Bevölkerungsverhältnisse in Richtung der Zentren. Ein gutes Beispiel ist Südniedersachsen, maßgeblich der Landkreis Göttingen. Wer sich in Bad Grund an der nördlichen Spitze ins Auto setzt, muss anderthalb Stunden einkalkulieren, bis er in Landwehrhagen kurz vor der niedersächsisch-hessischen Landesgrenze angelangt ist. Entlang dieser fast 90 Kilometer langen Strecke quer durch den Landkreis wird an vielen Stellen deutlich, wie sehr sich das Wohnen unterscheidet.
Diese Heterogenität spielt bei einer wohnungswirtschaftlichen Analyse natürlich eine große Rolle. Zumal der Landkreis in seiner jetzigen Ausprägung erst seit rund fünf Jahren – nach der Fusion des alten Landkreises Göttingen mit dem Landkreis Osterode – besteht. Diese Verschmelzung hat auch der Wohnungswirtschaft in der Region große Veränderungen beschert. Denn der ehemalige Landkreis Göttingen hatte, anders als der Landkreis Osterode, bis dahin keine kreiseigene Wohnungsgesellschaft. Eine Folge dieses Missstandes war: Öffentlich geförderter Wohnungsbau fand im Landkreis Göttingen praktisch nur in der Kernstadt durch die Städtische Wohnungsgesellschaft statt.
Jetzt steht dem Kreis und seinen Gemeinden mit der Kreiswohnbau Osterode am Harz/Göttingen GmbH ein leistungsstarkes Wohnungsunternehmen zur Verfügung, das zu einer nachhaltigen Regionalentwicklung sein Know-how auf dem Wohnungsmarkt beisteuert.
Hans-Peter Knackstedt, Geschäftsführer der Kreiswohnbau Osterode am Harz/Göttingen GmbH
Wie erfolgreich dies funktioniert, hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll bewiesen. Und die Zahlen verdeutlichen das: Seit Ende der 1990er Jahre hat die Kreiswohnbau ihre Bilanzsumme von 40 auf rund 86 Millionen Euro mehr als verdoppelt, 350 neue Wohnungen sind hinzugekommen, und im Gewerbebau wurden 31 Millionen Euro investiert u. a. für das Berufsbildungs- und Qualifizierungszentrum in Osterode. Das alles gelang in einem schwierigen wohnungswirtschaftlichen Umfeld. Denn weder die Wirtschafts- noch die Bevölkerungsdaten am Westrand des Harzes sind seit jeher besonders rosig.
Umso bemerkenswerter ist der von Optimismus geprägte Tatendrang der kreiseigenen Wohnungsgesellschaft. Sie nahm die Auswirkungen des demografischen Wandels als Herausforderung und nicht etwa als Schicksalsschlag für die Region. Was im eigenen Bestand nicht mehr passte, das wurde passend gemacht. Gebäude, die keine langfristige Perspektive am Wohnungsmarkt mehr hatten, wurden aufwändig saniert oder durch generationengerechte und moderne Neubauten ersetzt. Ideal für ältere Menschen, aber auch für junge Familien. Dazu spannte die Kreiswohnbau ein dichtes Netz wohngebegleitender Dienstleistungen. Wohnen statt Wohnung, propagiert Geschäftsführer Hans-Peter Knackstedt. Er führt den Erfolg der sozial orientierten Kreisgesellschaft unter anderem auf die professionelle Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat und dessen Vorsitzenden Landrat Bernhard Reuter zurück. Reuter hatte dieses Amt von 1999 bis 2012 während seiner Tätigkeit beim Landkreis Osterode inne. Nach der Fusion der Landkreise übernahm er die Aufgabe 2017 ein zweites Mal.
Kreiseigene Wohnungsgesellschaften in Niedersachsen kennen sich gewöhnlich mit komplexen Herausforderungen aus. Zumeist kann ihr Wirkungsbereich nicht mal eben vom Schreibtisch aus übersehen werden, sondern erfordert spezielle Kenntnisse von der Region und den Menschen. Hinzu kommt nicht selten eine Spreizung zwischen prosperierenden Städten und Gemeinden und solchen, die etwa aufgrund ihrer Lage oder mangelhafter verkehrlicher Anbindung nicht so unmittelbar von Wohlstand und Wachstum starker Zentren profitieren. Aus dieser Gemengelage resultiert, dass ein kreiseigenes Wohnungsunternehmen einen großen Instrumentenkoffer bedienen muss.
Die Kreiswohnbau Osterode am Harz/Göttingen kann das. Und der Landkreis nutzt diese Kompetenz – etwa beim Bau öffentlich geförderter Wohnungen. In Bovenden wurden erste Projekte erfolgreich realisiert, in Rosdorf werden weitere Neubauten folgen. Auch mit dem Objektumbau zu einer Flüchtlingsunterkunft in Wollershausen und der Errichtung der neuen DRK-Rettungswache in Osterode zeigt das Unternehmen seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten. Die Kreiswohnbau versteht sich als Partner und Dienstleister für den Landkreis, seine Städte und Gemeinden. Das bietet dem unmittelbaren Göttinger Umland gute Entwicklungsperspektiven.
Doch der Wohnungsmarkt in Südniedersachsen geht über den Göttinger Speckgürtel hinaus. Einige Daten mögen das unterstreichen: Immerhin ist der Landkreis Göttingen mit rund 1.750 Quadratkilometern der achtgrößte in Niedersachsen. Bei der Einwohnerzahl liegt er mit etwa 326.000 an vierter Stelle. Es gibt 177.000 Wohneinheiten, davon knapp 81.000 in Mehrfamilienhäusern. Die Wohnungen bzw. Häuser sind durchschnittlich 93 Quadratmeter groß (zum Vergleich: Landkreis Northeim = 105 Quadratmeter). Etwa jede dritte Wohnung im Landkreis Göttingen ist in den 1960er und 1970er Jahren gebaut worden. Interessant hierbei auch die Zahlen nur für das Stadtgebiet Göttingen: Es gibt 65.650 Wohnungen, davon etwa 50.000 in Mehrfamilienhäusern. Bei fast 80.000 Haushalten insgesamt liegt der Anteil der Ein-Personen-Haushalte deutlich über der Hälfte.
Jörg Wieland, Vorstand des Gemeinnützigen Bauvereins in Münden eG
Die sozial orientierte Wohnungswirtschaft begegnet dieser differenzierten Ausgangslage mit Kooperation und kollegialem Erfahrungsaustausch. Vor geraumer Zeit hat sich eine regionale Arbeitsgemeinschaft von vdw-Mitgliedern zusammengefunden, die in Südniedersachsen ansässig sind. Mit von der Partie ist beispielsweise der Gemeinnützige Bauverein in Münden eG. Die Genossenschaft hat rund 860 eigene Wohnungen im Bestand und verwaltet weitere 280 für Dritte. Ihr Vorstand Jörg Wieland war zu Zeiten der Kreisfusion Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion und somit eng vertraut mit den Erwartungen, die mit dem Zusammenschluss verbunden worden sind.
Die positive Entwicklung des Wohnungsmarkts in Hann. Münden sieht Wieland jedoch losgelöst vom neuen Landkreiszuschnitt. Die Drei-Flüsse-Stadt, deren Bewohner sich nicht nur nach Göttingen, sondern auch nach Kassel orientieren, ist mittlerweile ein begehrter Wohnort – insbesondere natürlich im Bereich der Kernstadt. Das war nicht immer so. In einigen Stadtteilen prägten jahrelang Leerstände das Bild.
Wie so oft ist der Wandel zum Positiven mit dem Begriff der Verantwortungsübernahme verbunden. Vermieter wie der Bauverein, die zugleich Kaufleute, Techniker und Lokalpatrioten sind und denen die Perspektive ihrer Stadt und ihrer Mieter nicht egal ist, gehen voran und sorgen mit dem Werterhalt ihrer Häuser und Wohnungen sowie gezielten Neubauten für ein geordnetes Stadtbild und attraktive Nachbarschaften. Wer nur auf die Rendite blinzelt, hätte die eine oder andere Investitionsentscheidung des Bauvereins oder anderer vdw-Mitglieder in Südniedersachsen womöglich nicht getroffen. Und genau an diesem Punkt wird etwas ganz Wichtiges deutlich: Sozial orientierter Wohnungsbau ist Daseinsvorsorge mit einem Blick auch auf Heimatpflege! Wenn das Bauchgefühl bei der einen oder anderen Kalkulation mal den Ausschlag gibt, dann ist das eben so – und dann ist es auch gut.
Katharina Franzke, Geschäftsführerin der „Wohnen in Northeim GmbH“
Auch zur südniedersächsischen Arbeitsgemeinschaft der vdw-Mitglieder gehört die ehemals kreiseigene Wohnen in Northeim GmbH mit Geschäftsführerin Katharina Franzke. Ähnlich wie in Hann. Münden litt der Wohnungsmarkt in Northeim lange unter Leerständen – oder wie es Statistiker sagen: Angebotsüberhängen! Die Prognosen waren zudem ziemlich düster.
Mittlerweile aber fallen die nicht vermieteten Wohnungen nicht mehr ins Gewicht. Dennoch finden sich im Landkreis Northeim (ähnlich wie im benachbarten Landkreis Göttingen) begehrte und weniger begehrte Wohnlagen. In Nörten-Hardenberg führt das Team von Katharina Franzke Wartelisten von Mietinteressenten. Anderenorts liegt der Quadratmeterpreis zwar um zwei Euro niedriger, aber die Nachfrage ist dennoch geringer.
In der Stadt Northeim selbst verfügt die Wohnungsgesellschaft über 1.450 Wohnungen. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren an Attraktivität gerade bei jungen Familien gewonnen. Alle Krippen- und Kita-Plätze sind vergeben. Ein Grund für den Zuzug sind natürlich die deutlich geringeren Wohnkosten, und bezahlbare Baugrundstücke finden Interessenten im Landkreis Northeim eher als in der Stadt Göttingen. Es gibt dennoch genügend Potenziale für die weitere Entwicklung, darunter eine kreative Lösung für die Mobilität der Menschen im Landkreis.
Ein Mittelzentrum wie Northeim könnte nicht nur für Berufspendler, sondern auch für Senioren, die im Landkreis beispielsweise ihr Eigenheim verkaufen wollen, ein attraktiver Wohnort sein. Geschäfte, Ärzte, kulturelles Angebot – alles ist auf kurzem Wege erreichbar. Mit den ersten Neubauprojekten – etwa dem generationenübergreifenden Projekt Q4 – Wohnen am Wieter und dem Projekt Am Posthof – bietet die Gesellschaft generationsgerechte und barrierearme Wohnungen an, die zudem auch einer sozialen Bindung unterliegen, denn 70 Prozent sind öffentlich gefördert. Die Nachfrage nach solchen Wohnungen wird weiterhin groß sein. Aber auch in Northeim sind die Erstellungskosten mittlerweile so hoch, dass die daraus resultierenden Mieten auch für eine ältere Mieterschaft mit durchschnittlichem Haushaltseinkommen zu hoch sein werden.
Generell ist unverkennbar, dass der Siedlungsraum Göttingen einen erhöhten Wohnungsbedarf hat. Und je dichter man an die Metropole heranrückt, desto größer wird der Nachfragedruck. Das ist keine sonderlich exklusive Erkenntnis. In vergleichbaren niedersächsischen Ballungsräumen mit Universitäten und Hochschulen wie beispielsweise Osnabrück oder Oldenburg sind das Zentrum und der erste Ring bei Wohnungssuchenden ebenfalls besonders begehrt.
Rolf-Georg Köhler, Oberbürgermeister der Stadt Göttingen
Große Städte wie Göttingen dominieren immer die Entwicklung von Regionen wirtschaftlich, sozial und kulturell. Arbeitsplätze – zumal in hochqualifizierten, zukunftsträchtigen Branchen – entstehen zumeist in zentralen Lagen; eine komplette Infrastruktur von Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Gesundheitswesen und eng getaktetem öffentlichem Nahverkehr kann nur dort ausgelastet sein, wo viele Menschen auf vergleichsweise kleinem Raum leben; das Wohnungsangebot ist nirgends so ausdifferenziert wie in einer Großstadt – es spiegelt, anders als in ländlichen Regionen, den Zustand bzw. die Bedürfnisse unserer Gesellschaft in ihrer gesamten Spannbreite wider. So gibt es öffentlich geförderten Wohnungsbau in Südniedersachsen vor allem in der Stadt Göttingen, weil dort eben mehr Menschen wohnen, die auf genau dieses Angebot angewiesen sind.
Die Nachfrage in allen Segmenten des Wohnungsmarktes in seiner Stadt sei enorm, meint Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler. Auf der einen Seite fehlen – wie in anderen Bereichen Niedersachsens auch – bezahlbare Wohnungen für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen. Die Gründe: Öffentlich geförderter Wohnungsbau fand in den Nuller-Jahren praktisch nirgends im Land statt. Der Bestand an Sozialwohnungen schmolz allerorten dramatisch ab, beispielsweise im Landkreis Göttingen nach Angaben der NBank im Zeitraum von 2012 bis 2019 von 4.050 auf 3.318 Wohneinheiten. Das Statistische Informationssystem für die Stadt Göttingen wies allein für das Jahr 2019 mehr als 1.000 Abgänge durch auslaufende Bindungen aus.
In Göttingen hat zudem der Verkauf ehemaliger Post-, Bahn- und Gewerkschaftswohnungen an private Investoren dem Markt bezahlbaren Wohnraum entzogen. Diese neuen Eigentümer verfolgen nämlich ein gänzlich anderes Geschäftsmodell, in dem soziale Erwägungen keine Rolle spielen. Und weil das Angebot immer knapper wird, machen sich Verdrängungseffekte bemerkbar, zumal 30.000 Studierende ein weiterer erheblicher Faktor in dieser Rechnung sind.
Aber auch am anderen Ende des Wohnungsmarktes erhöht sich der Druck, denn Unternehmen wie Sartorius, die Max-Planck-Gesellschaft, die Universität, die HAWK und die gesamte Gesundheitsindustrie locken immer mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte nach Göttingen. Die wiederum suchen moderne Wohnungen in innerstädtischer Lage mit guter Anbindung zu ihren Arbeitsplätzen. Und wer in der Göttinger Live-Science-Factory als Start-up-Unternehmer an seiner Karriere bastelt, wünscht sich wohl eher eine 24/7-Dienstleistungsstadt als eine ruhige Nachbarschaft mit Blick ins Wesertal.
Viele Städte haben das gleiche Problem wie Göttingen: Für die weitere Verdichtung zugunsten eines umfangreichen Wohnungsbaus fehlt oft der Platz. Außerdem stoßen Pläne dieser Art immer häufiger auf den Widerstand von Anwohnern, die aufgrund einer intensiveren Nutzung des eigenen Stadtteils persönliche Nachteile befürchten. Dennoch ist es der Stadt Göttingen gelungen, Bauflächen für mehr als 3.000 neue Wohneinheiten auszuweisen.
Claudia Leuner-Haverich, Geschäftsführerin der Städtischen Wohnungsbau Göttingen GmbH
Ein maßgebliches Projekt ist die Quartiersentwicklung Grüne Mitte Ebertal der Städtischen Wohnungsbau GmbH (swb). An diesem Beispiel lassen sich die komplexen Zusammenhänge großräumiger Stadtumbauvorhaben sehr anschaulich darstellen. Einen Vorteil hatte das Vorhaben von Beginn an: Die Grundstücke im Quartier gehören ausnahmslos der swb. Ziel der Maßnahmen ist eine umfassende Überplanung des Gebietes mit zusätzlichen Wohnbauten, einer verbesserten Klimabilanz und neugestalteten Außenanlagen. Teilweise müssen Gebäude aus den 1960er Jahren abgerissen und ersetzt werden; die ersten neuen Wohnungen wurden bereits bezogen. Aufgrund der öffentlichen Förderung liegen die Mieten zwischen 5,60 und 7,00 Euro pro Quadratmeter. Die swb wird allen bisherigen Bewohnern auch die sanierten bzw. neu gebauten Wohnungen anbieten. Zwischenbilanz: Die Grüne Mitte Ebertal ist eine Erfolgsgeschichte.
An anderen Stellen gibt es jedoch mitunter Probleme. Denn für viele Haushalte sind die angepassten Mieten etwa nach einer Modernisierung eine zu große finanzielle Belastung. Die in den Regeln zur öffentlichen Wohnraumförderung eingepreisten Mietsteigerungen von zwei Prozent pro Jahr kann die swb mit Blick auf ihre Mieterstruktur überhaupt nicht realisieren. Das Unternehmen verfügt über rund 4.700 Wohneinheiten bei einer Durchschnittsmiete von knapp über 5,20 Euro pro Quadratmeter. Es gibt rund 320 Wohnungswechsel im Jahr; auf der Warteliste stehen 1.900 Interessenten, zumeist Ein- und Zwei-Personen-Haushalte.
Für diese Zielgruppe neu zu bauen, ist wie in Northeim auch in Göttingen aus wirtschaftlichen Gründen kaum machbar. Die Baukosten sind nicht nur deutschlandweit, sondern auch in Südniedersachsen in den vergangenen Jahren förmlich explodiert. Nur einige Gründe dafür: Grundstücke werden teurer, einzelne Baugewerke haben ihre Preise kräftig erhöht, hinzu kommen zusätzliche Kosten durch immer aufwändigere technische Anforderungen an Gebäude. Der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Niedersachsen Bremen zielt mit seinen Forderungen und Vorschlägen an Politik und Verwaltung seit Langem auf eine Verbesserung der Investitionsbedingungen: Effektivere Förderprogramme und eine Verschlankung der Landesbauordnung sind nur zwei der großen Handlungsfelder.
Bessere Investitionsbedingungen werden aber nur dann das Angebot bezahlbarer Wohnungen erhöhen, wenn preisgünstige Baugrundstücke in ausreichender Anzahl bereitgestellt werden. Im Landkreis Göttingen sind laut Wohnbaulandumfrage 2018 der NBank die Bodenrichtwerte für Bauflächen des individuellen Wohnungsbaus von 2010 bis 2019 um 47 Prozent gestiegen. Gleichzeit wird ein rechnerisches Baulanddefizit für Geschosswohnungsbau bis 2025 von 1,8 Hektar pro 10.000 Einwohner ausgewiesen.
swb-Chefin Leuner-Haverich sieht zumindest bei der Grundstücksvergabe die Bemühungen der Stadt Göttingen, auch soziale Überlegungen einfließen zu lassen. Ihre Gesellschaft und die beiden großen Wohnungsgenossenschaften in der Stadt werden mittlerweile zuerst nach ihrem Interesse gefragt, ehe auch andere Investoren am Vergabeverfahren teilnehmen können. Einer durchschlagenden Wohnungsbauoffensive stehen aber weitere Hindernisse im Weg: So sind die Kapazitäten im Bauhandwerk praktisch ausgeschöpft, und auch der Fachkräftemangel insbesondere beim technischen Personal engt die Wohnungsunternehmen zunehmend ein.
Somit sind auch die Kommunen in der Pflicht. Beim Überflug über die ausgewählten südniedersächsischen Städte zeigt sich, wie präzise Handlungsempfehlungen auf die jeweiligen lokalen Bedürfnisse heruntergebrochen werden müssten. Dies erfordert spezielle Vor-Ort-Kenntnisse, die die jeweiligen Wohnungsunternehmen gerne einbringen, um die gesamte Region gemeinsam positiv zu entwickeln.
Wie dies partnerschaftlich funktionieren kann, zeigt die Kooperation beim Projekt Am Steffensberge in Bovenden zwischen dem Landkreis, der Gemeinde, der Kreiswohnbau und der Niedersächsischen Landgesellschaft (NLG). Jetzt sind weitere Gemeinden gefordert, in der Bauleitplanung bedarfsgerecht Flächen zur Verfügung zu stellen; die NLG und die Kreiswohnbau werden behilflich sein. Die Wohnungswirtschaft wird dieses wichtige Thema intensiv mit Landespolitik und kommunalen Spitzenverbänden diskutieren.
Zwei besondere Initiativen sind uns bei unserer Tour durch Südniedersachsen als beispielgebend aufgefallen. Klein, aber fein, könnte man zur Dorfmoderation Südniedersachsen sagen. Denn die Zukunftsfähigkeit von Dörfern darf uns nicht gleichgültig sein. Wir würden nicht nur ein Stück Heimat, sondern auch ein Stück unserer Identität aufgeben. Umso bedeutender sind die Prozesse von unten, die im Landkreis Göttingen auf Initiative von Landrat Bernhard Reuter zustande gekommen sind. So werden gelebte Nachbarschaften gefördert und das Ehrenamt gestärkt. Dörfer werden zum Leben erweckt. Jetzt sind sie nur noch einige Kilometer Breitbandkabel und den damit verbundenen Anschluss ans schnelle Internet davon entfernt, zu attraktiven Wohn- und Arbeitsorten für Menschen zu werden, die bislang auf die Stadt angewiesen sind. Der Trend zum Mobilen Arbeiten könnte dem Aufblühen ländlicher Gebiete weiteren Vorschub leisten.
Die zweite vielversprechende Initiative finden wir in Göttingen selbst. OptiWohnen – dieses Projekt sucht nach nachhaltigen Lösungen, um den akuten Wohnraummangel in deutschen Großstädten zu beheben. Ein interessanter Ansatzpunkt ist die Ermittlung von Flächenoptimierungspotenzialen. Dahinter steckt die Überlegung, ob der Wohnflächenverbrauch pro Person immer weiter auseinanderdividiert. Für die Stadt Göttingen haben die Forscher das stadtteilgenau ermittelt. Diese Erkenntnis könnte viele sinnvolle soziale, ökologische und ökonomische Überlegungen nach sich ziehen. Wer allerdings meint, durch den Tausch Kleine Wohnung – große Wohnung könnte man die quantitativen Probleme am Wohnungsmarkt lösen, dem sei gesagt, dass verschiedene Versuche von vdw-Mitgliedsunternehmen hierzu gescheitert sind bzw. keine nennenswerten Effekte erzielt haben.
Zur Stabilisierung des sozialen Friedens, zur Förderung von Integration und zur Stärkung von Vielfalt in unseren Städten und Gemeinden wird es darauf ankommen, ob genügend preiswerter Wohnraum zur Verfügung steht. Ansonsten drohen tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte, die wir uns gerne ersparen. Wohnen ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Und wir werden uns daran messen lassen müssen, ob es uns gelingt, auch denjenigen angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, die sich am Markt nicht selbst versorgen können – zumeist, weil ihnen das Geld fehlt.
Der Wohnungsmarkt in Südniedersachsen, sei es im Landkreis Northeim oder im Landkreis Göttingen, steht vor vielfältigen Herausforderungen. Die Verantwortlichen in den Kreistagen sowie den Stadt- und Gemeindeparlamenten sollten auf die Expertise ihrer Wohnungsunternehmen vertrauen. Die Arbeitsgemeinschaft der vdw-Mitglieder in der Region belegt eindrucksvoll: Gemeinsam geht es besser!